Sozialrecht / Ausländerrecht / Asylrecht [10.09.2024]
Bezahlkarte für Asylbewerber hält einstweiliger Überprüfung stand
Bezahlkarte darf in München vorerst bleiben
Werden Leistungen an Asylbewerber von der zuständigen Behörde nur noch mittels Bezahlkarte gewährt, so ist dies jedenfalls nicht offensichtlich rechtswidrig. Bis zu einer endgültigen gerichtlichen Klärung können die Zahlungen weiterhin mit der Bezahlkarte erbracht werden. Dies hat das Sozialgericht München in zwei Verfahren entschieden.
Beim Sozialgericht München sind verschiedene Verfahren anhängig, die sich gegen die Verwendung von Bezahlkarten wenden. Der Gesetzgeber hatte den Leistungsträgern die Möglichkeit gegeben, Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz statt in Geld in Form von Bezahlkarten zu gewähren, um einen Missbrauch der Leistungen auszuschließen. Mit den Anträgen wenden sich mehrere Empfänger gegen den Einsatz der Karten. Im einstweiligen Rechtsschutz wollten die Antragsteller erreichen, dass ihnen bis zur endgültigen gerichtlichen Klärung weiterhin Bargeldleistungen gewährt werden. Das Gericht hat zwei dieser Anträge nun bereits abgelehnt.
Verwendung der Bezahlkarte nicht offensichtlich rechtswidrig
Das Gericht kam zu der Auffassung, dass die Verwendung der Bezahlkarte jedenfalls nicht offensichtlich rechtswidrig sei. Der Gesetzgeber habe die Karte als mögliche Leistungsform vorgesehen. Für welche Fälle sie zum Einsatz kommt, liege im Ermessen der Behörde. In den anhängigen Fällen habe die Behörde dieses Ermessen dahingehend ausgeübt, dass sie sich für die Ausgabe der Karte entschieden habe. Bei einer ersten Bewertung des Sachverhaltes hätten sich auch keine Gründe ergeben, wonach die Behörde im Einzelfall verpflichtet gewesen wäre, weiterhin Geldleistungen zu gewähren.
Sozialgericht sah in beiden Fällen keine Gründe die Verwendung der Bezahlkarte zu untersagen
Eine Antragstellerin aus Sierra Leone war im August 2023 nach Deutschland eingereist und hatte hier einen Asylantrag gestellt. Sie macht geltend, dass sie aufgrund einer Augenerkrankung auf Geldleistungen angewiesen sei. Das Gericht sah darin aber keinen Grund, warum sie nicht zumindest einstweilen die Geldkarte nutzen könnte. Der zweite Antragsteller war 2003 aus Nigeria in das Bundesgebiet eingereist. Sein Asylantrag blieb erfolglos. Aufgrund einer Erkrankung besteht weiterhin eine Duldung seines Aufenthalts. Er macht geltend, dass die Bezahlkarte nur für neue Asylbewerber gelten könne, sein Verfahren sei jedoch abgeschlossen. Das Gericht sah auch hier keinen Grund, weshalb der in München lebende Antragsteller auf eine Bargeldleistung angewiesen sei. Trotz seiner Erkrankung sei er mobil und im Raum München gäbe es genügend Möglichkeiten für Einkäufe mit Karte. In beiden Fällen sah das Gericht daher keinen Grund, den Behörden bis zu einer endgültigen gerichtlichen Klärung die Verwendung der Bezahlkarte zu untersagen.
Sozialgericht München, ra-online (pm/ab)
Sozialrecht [10.09.2024]
Höhe der Grundsicherung ist verfassungsgemäß und ein zusätzlicher Inflationsausgleich nicht erforderlich
Gesetzgeber hat den Regelsatz für das Bürgergeld im Rahmen seines Gestaltungsspielraums angepasst
Mit der Einmalzahlung und der deutlichen Steigerung des Regelsatzes ab dem 01.01.2023 hat der Gesetzgeber die durch die Pandemie und die Inflation entstandenen zusätzlichen Kosten angemessen schnell berücksichtigt. Dies hat das Landessozialgericht Nordrhein-Westfalen in seinem noch nicht rechtskräftigen Urteil vom 13.12.2023 entschieden.
Der 1966 geborene Kläger machte bei der beklagten Gemeinde vergeblich höhere SGB II-Leistungen für 2022 geltend. Dabei zweifelte er die Verfassungsmäßigkeit des Regelbedarfs an und verlangte die Gewährung eines pandemiebedingten Mehrbedarfs. Das SG Münster wies seine Klage durch Gerichtsbescheid ab.
Landessozialgericht sieht keine Verfassungswidrigkeit des Regelbedarfs
Die hiergegen eingelegte Berufung hat das LSG zurückgewiesen. Zwar seien die Inflationsrate und damit der Kaufkraftverlust für das zur Verfügung stehende Einkommen auch in Form von staatlichen Transferleistungen derzeit und schon im Jahr 2022 erheblich gewesen. Eine Verfassungswidrigkeit des Regelbedarfs ergebe sich daraus jedoch nicht. Die Inflationswerte seien nicht ohne weiteres auf die regelsatzrelevanten Güter zu übertragen. Welche Schlussfolgerungen aus der Inflationsrate für eine Anpassung der Regelleistungen aufgrund dieser Teuerungsrate zu ziehen seien, sei vorrangig Aufgabe des Gesetzgebers.
Regelbedarf muss aber periodisch angepasst werden
Dieser müsse bei den periodisch anstehenden Neuermittlungen des Regelbedarfs zwischenzeitlich erkennbare Bedenken aufgreifen und unzureichende Berechnungsschritte korrigieren. Eine solche Reaktion sei erfolgt. Bereits für den Monat Juli 2022 sei von Amts wegen eine Einmalzahlung zum Inflationsausgleich in Höhe von 200 € gewährt worden (§ 73 SGB II), womit der Gesetzgeber der regulären Fortschreibung der Regelbedarfsstufen zuvorgekommen sei.
Deutliche Steigerung des Regelsatzes mit Einführung des Bürgergeldes
Auch die deutliche Steigerung des Regelsatzes mit Einführung des Bürgergeldes ab dem 01.01.2023 dokumentiere die angesichts komplexer demokratischer Gesetzgebungsverfahren angemessen schnelle Reaktion des Gesetzgebers auf die Diskrepanz zwischen Preisentwicklung und Regelbedarfsanpassung. Damit habe er im Rahmen seines Gestaltungsspielraums in einem zumutbaren Zeitraum ein inflationsgeschütztes Grundsicherungsniveau geschaffen.
Nichtzulassungsbeschwerde
Das LSG hat die Revision nicht zugelassen. Der Kläger hat beim Bundessozialgericht Nichtzulassungsbeschwerde eingelegt (B 7 AS 56/24 B).
Nachinstanz: Bundessozialgericht, laufendes Verfahren - B 7 AS 56/24 B -
Landessozialgericht Nordrhein-Westfalen, ra-online (pm/pt)
Waffenrecht [10.09.2024]
Waffenrechtliche Unzuverlässigkeit für erlaubnisbedürftige Waffen bedeutet nicht zugleich keine erlaubnisfreien Waffen haben zu dürfen
Klage gegen umfassendes Waffenverbot teilweise erfolgreich
Wem verboten wird erlaubnisbedürftige Waffen zu haben, dem kann nicht zugleich damit automatisch auch verboten werden, erlaubnisfreie Waffen zu besitzen. Das Verbot erlaubnisfreier Waffen bedeutet einen stärkeren Grundrechtseingriff als das Verbot erlaubnispflichtiger Waffen. Es müssen daher weitere Aspekte hinzukommen, die es rechtfertigen, auch den Besitz erlaubnisfreier Waffen zu untersagen. Dies hat das Verwaltungsgericht Koblenz entschieden.
Der Kläger wandte sich mit seiner Klage gegen das unbefristete Verbot, erlaubnisbedürftige und erlaubnisfreie Waffen nebst zugehöriger Munition zu besitzen und zu erwerben.
Sachverhalt
Im Jahr 2020 waren im Rahmen einer Wohnungsdurchsuchung mehrere erlaubnispflichtige Waffen beim Kläger aufgefunden worden, ohne dass er über eine waffenrechtliche Erlaubnis verfügt hätte. Eine der Waffen lag dabei im geladenen Zustand auf der Couch.
Nach Verurteilung des Klägers zu einer Geldstrafe und Einziehung seiner Waffen und Munition durch das zuständige Amtsgericht im Jahr 2021 erließ der beklagte Landkreis im Jahr 2023 den angefochtenen Bescheid. Der Kläger habe sich waffenrechtlich als unzuverlässig erwiesen. Man sei deshalb zu dem Erlass des Verbots verpflichtet.
Klage hat teilweise Erfolg
Die nach erfolglosem Widerspruchsverfahren erhobene Klage hatte teilweise Erfolg.
Zwar sei das Verbot rechtmäßig, soweit es sich auf den Erwerb und den Besitz erlaubnispflichtiger Waffen beziehe, so die Koblenzer Richter. Insoweit sei der Beklagte zu Recht von der Unzuverlässigkeit des Klägers ausgegangen. Er habe für den Erlass des Verbots keine Ermessenserwägungen anstellen müssen. Denn der Kläger habe nicht nur den waffenrechtlichen Erlaubnisvorbehalt, sondern auch die Vorgaben zur Aufbewahrung der Waffen völlig missachtet.
Anders sei dies jedoch, soweit der Beklagte das Verbot auf erlaubnisfreie Waffen erstreckt habe. Zwar habe der Beklagte die Vorkommnisse zum Anlass für ein solches Verbot nehmen dürfen.
Verbot erlaubnisfreier Waffen ist ein sehr starker Grundrechtseingriff
Das Verbot erlaubnisfreier Waffen bedeute jedoch einen stärkeren Grundrechtseingriff als das Verbot erlaubnispflichtiger Waffen. Es sei zu berücksichtigen, dass es keine Hinweise auf den Besitz erlaubnisfreier Waffen gegeben habe; ferner sei es durch den Kläger nicht zu einer konkreten Gefährdung anderer Menschen gekommen. Vor dem Erlass des Strafbefehls im Jahr 2021 sei der Kläger strafrechtlich nie in Erscheinung getreten; er habe die Verstöße eingeräumt, lebe in geordneten Verhältnissen und habe kein aggressives Verhalten gezeigt. Mit diesen Aspekten habe sich der Beklagte jedoch nicht auseinandergesetzt, weshalb das Verbot erlaubnisfreier Waffen rechtswidrig sei.
Gegen diese Entscheidung können die Beteiligten einen Antrag auf Zulassung der Berufung stellen.
Verwaltungsgericht Koblenz, ra-online (pm/pt)
Sozialversicherungsrecht / Krankenkassenrecht / Gesundheitsrecht [10.09.2024]
Krankenkasse muss keine gynäkologische Lasertherapie zur Minimierung von Schmerzen beim Geschlechtsverkehr übernehmen
Keine Altersdiskriminierung in der Sexualmedizin
Das Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen (LSG) hat entschieden, dass die Gesetzliche Krankenversicherung (GKV) nicht für eine gynäkologische Lasertherapie aufkommen muss.
Geklagt hatte eine Seniorin (geb. 1952) aus Hannover, die nach den Wechseljahren an einer Trockenheit des Intimbereichs und Schmerzen beim Geschlechtsverkehr litt. Ihr Frauenarzt empfahl ihr eine Laserbehandlung. Hierdurch würde es zu einer Verbesserung der Kollagen- und Elastinbildung kommen und damit zu einer längerfristigen Besserung der Beschwerden. Außerdem könne dadurch eine dauerhafte Hormontherapie vermieden werden.
Ihre Krankenkasse lehnte den Antrag ab. Eine Laserbehandlung des Intimbereichs sei keine Kassenleistung, da sie durch den Gemeinsamen Bundesausschuss nicht zugelassen sei. Ausnahmen vom generellen Leistungsausschluss seien nur bei schwersten Erkrankungen möglich.
Klägerin trägt eine Altersdiskriminierung vor
Hiergegen argumentierte die Frau, dass bei ihr keine andere Behandlung möglich sei. Zahlreiche Fachartikel würden die Erfolge der Therapie belegen. Die Frau war der Auffassung, dass man ihr eine erfolgversprechende Behandlung aufgrund ihres Alters verwehre, weil die sexuelle Gesundheit älterer Menschen nicht ernst genommen werde. Der Geschlechtsverkehr sei jedoch naturgegeben, wie alle anderen Körperfunktionen auch. Bei Störungen von Körperfunktionen müsse die GKV unabhängig vom Alter für die Behandlungskosten aufkommen. Die Ablehnung verstoße gegen den Gleichheitsgrundsatz.
Gericht: Die beabsichtigte Lasertherapie ist nicht durch den Gemeinsamen Bundesausschuss zugelassen
Das LSG hat die Rechtsauffassung der Krankenkasse bestätigt. Zur Begründung hat es ausgeführt, dass eine Laserbehandlung des Intimbereichs als neue Untersuchungs- und Behandlungsmethode zu bewerten sei, die durch den Gemeinsamen Bundesausschuss zugelassen sein müsse. Eine Entscheidung über die politische Dimension und Relation einzelner GKV-Leistungen habe das Gericht nicht zu treffen. Ein Verstoß gegen den Gleichheitsgrundsatz im Sinne einer Altersdiskriminierung liege schon deshalb nicht vor, weil auch jüngere Menschen keinen Anspruch auf eine nicht zugelassene Lasertherapie hätten.
Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen, ra-online (pm/pt)
Verwaltungsrecht [10.09.2024]
Ex-Staatssekretärin Döring darf nicht zu Fördergeld-Affäre aussagen
Eilantrag der ehemaligen Staatssekretärin in der Fördergeld-Affäre abgelehnt
Das Verwaltungsgericht Minden hat im Rahmen eines Eilverfahrens entschieden, dass der ehemaligen Staatssekretärin im Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) keine Ansprüche auf Unterlassung sowie Aussagegenehmigung gegen die Bundesrepublik Deutschland zustehen; diese macht die Antragstellerin nach dem Erscheinen einer Presseerklärung des BMBF zu förderrechtlichen Konsequenzen in Bezug auf einen offenen Brief zu Protestcamps an Berliner Hochschulen geltend.
Die Antragstellerin war bis zum 20. Juni 2024 Staatssekretärin im BMBF im Beamtenverhältnis auf Lebenszeit. Am 7. Mai 2024 löste die Polizei ein Protestcamp von Studierenden an der Freien Universität Berlin auf. Daraufhin erschien am 8. Mai 2024 ein offener Brief von Lehrenden an Berliner Hochschulen, in dem die Lehrenden den Polizeieinsatz kritisierten und die Berliner Universitätsleitungen aufforderten, von Polizeieinsätzen gegen ihre eigenen Studierenden abzusehen. Am 11. Juni 2024 wurde ein interner Mailverkehr des BMBF, in dem zunächst auch die Prüfung potentieller förderrechtlicher Konsequenzen für die Unterzeichner des offenen Briefes angesprochen wurde, öffentlich. Es folgte eine Versetzung der Antragstellerin in den einstweiligen Ruhestand, zu der die zuständige Bundesministerin am 16. Juni 2024 eine Presseerklärung erließ.
Keinen Anspruch auf Unterlassung der getätigten Aussage des BMBF
Der aufgrund dieser Presseerklärung am 4. Juli 2024 erhobene Eilantrag der Antragstellerin blieb ohne Erfolg. Die Antragstellerin habe keinen Anspruch auf Unterlassung der in der Presseerklärung vom 16. Juni 2024 getätigten Aussage des BMBF. Anders als die Antragstellerin meine, enthalte diese Presseerklärung nicht die Aussage, dass die Antragstellerin eine Prüfung förderrechtlicher Konsequenzen bei den zuständigen Fachreferaten erbeten habe. Auch sei die besagte Passage für einen unvoreingenommenen Durchschnittsempfänger - auf den es hier ankomme - nicht so zu verstehen. Aus den Formulierungen werde vielmehr deutlich, dass die Antragstellerin nicht diejenige gewesen sei, die die Prüfung förderrechtlicher Konsequenzen erbeten habe, sondern sie nur diejenige gewesen sei, die für den dieser Prüfung zugrundeliegenden Prüfauftrag - mit welchem konkreten Inhalt auch immer - verantwortlich gewesen sei und sie daraufhin erklärt habe, dass sie sich bei ihrem Auftrag der rechtlichen Prüfung offenbar missverständlich ausgedrückt habe. Diese Erklärung stelle eine wahre Tatsachenbehauptung dar und verletze die Antragstellerin nicht in ihrem allgemeinen Persönlichkeitsrecht.
Verschwiegenheitspflicht überwiegt
Der Antragstellerin stehe auch kein Anspruch auf Erteilung einer Aussagegenehmigung zu, um Fragen zur sog. „Fördergeldaffäre“ des BMBF im Rahmen der Sitzung der Arbeitsgruppe Bildung und Forschung der CDU/CSU-Bundestagsfraktion am 9. September 2024 zu beantworten. Sie könne ein berechtigtes Interesse zur Erteilung einer Aussagegenehmigung nicht geltend machen. Die Kammer verkenne dabei nicht, dass die Öffentlichkeit an der Aufklärung der Vorgänge um den „offenen Brief“ vom 8. Mai 2024 und die anschließende sog. „Fördergeldaffäre“ ein Interesse habe. Im vorliegenden Verfahren könne die Antragstellerin aber nur eigene Rechte, zu denen ein Interesse der Öffentlichkeit an Aufklärung gerade nicht gehöre, geltend machen. Eine Rechtsverletzung der Antragstellerin in eignen Rechten, insbesondere in ihrem allgemeinen Persönlichkeitsrecht, liege indes - wie bereits ausgeführt - nicht vor. Daher komme der Verschwiegenheitspflicht, der die Antragstellerin als ehemalige Beamtin unterliege, und die mit Verfassungsrang versehen sei, höheres Gewicht zu. Gegen den Beschluss ist das Rechtsmittel der Beschwerde zum OVG NRW statthaft.
Verwaltungsgericht Minden, ra-online (pm/ab)
Verkehrsrecht / Strassenverkehrsrecht / Versicherungsrecht / Haftungsrecht [09.09.2024]
Gurtpflicht ist eine drittschützende Norm und nichtangeschnallte Fahrzeuginsassen haften bei einem Unfall mit
Gesetzliche Anschnallpflicht soll auch andere Fahrzeuginsassen schützen
Das Oberlandesgericht Köln hat entschieden, dass Fahrzeuginsassen, die entgegen der Gurtpflicht gemäß § 21a Abs. 1 der Straßenverkehrsordnung nicht angeschnallt sind und dadurch andere Mitfahrer verletzen, selbst haftbar gemacht werden können. Bei der gesetzlichen Gurtpflicht handele sich um eine Norm, die auch die anderen Fahrzeuginsassen schützen solle. Das durch den Verstoß gegen die Gurtpflicht begründete Mitverschulden tritt hier im Fall aber hinter dem ganz überwiegenden Verschulden des Unfallverursachers zurück.
Im konkreten Fall blieb die Klage der Haftpflichtversicherung des Unfallverursachers wegen der behaupteten Verletzungen der Beifahrerin des anderen Fahrzeugs jedoch erfolglos. Der Unfallverursacher haftete für die Verletzungen der Beifahrerin des anderen Fahrzeugs. Er nahm die Beklagte, die nicht angeschnallt hinter der Beifahrerin saß, in Anspruch und behauptete, die Knie der Beklagten seien in die Rücklehne der Beifahrerin eingedrungen, was zu weiteren Schäden geführt habe. Der Senat hat eine Mithaftung der Beklagten abgelehnt, weil der Gurtpflichtverstoß gegenüber dem erheblichen Verschulden des stark alkoholisierten und die zulässige Höchst-geschwindigkeit erheblich überschreitenden Versicherungsnehmers der Klägerin vollständig zurücktrete.
Sachverhalt
Im September 2018 gegen 22:15 Uhr befuhr der Versicherungsnehmer der Klägerin mit seinem Pkw Audi A5 Coupé die Landstraße 121 in Höhe der Überquerung der Bundesautobahn 560 in Sankt Augustin-Buisdorf. Er war stark alkoholisiert (Blutalkoholkonzentration: 1,76 Promille) und fuhr mit deutlich überhöhter Geschwindigkeit (150 bis 160 km/h statt zulässiger 70 km/h). Ihm kam der mit drei Insassinnen besetzte Pkw Skoda Citigo entgegen, auf dessen Beifahrersitz die damals 36 Jahre alte Geschädigte saß und hinter der sich auf der Rückbank die nicht angeschnallte 38-jährige Beklagte befand. Der Pkw Audi kam von der Fahrbahn ab und stieß mit dem Pkw Skoda Citigo zusammen, wobei der Versicherungsnehmerin der Klägerin verstarb und die Insassen des anderen Fahrzeugs schwere Verletzungen erlitten.
Versicherung verlangt Geld von nicht angeschnallter Person
Die Klägerin nimmt die Beklagte als behauptete Mitverursacherin der Verletzungen der Geschädigten auf Erstattung von 70 % der von ihr bisher an diese in sechsstelliger Höhe erbrachten Leistungen sowie für künftige Zahlungen in Anspruch. Sie verweist auf Sachverständigengutachten, wonach die Nichteinhaltung der Gurtpflicht durch die Beklagte dazu geführt habe, dass deren Knie im Zeitpunkt des Aufpralls in die Rückenlehne des Beifahrersitzes eingedrungen seien und erhebliche Verletzungen der Geschädigten im Bereich der Lendenwirbelsäule und des Brustkorbs verursacht hätten.
Anschnallpflicht ist drittschützende Norm
Das OLG hat die Berufung der klagenden Versicherung gegen das klageabweisende Urteil des LG Bonn zurückgewiesen und dadurch die Ablehnung einer Mithaftung der Beklagten für die unfallbedingten Verletzungen der Geschädigten bestätigt. Die von § 21a Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 1 StVO geregelte Gurtpflicht stelle zwar eine drittschützende Norm im Sinne des § 823 Abs. 2 BGB dar, weil die Fahrzeuginsassen gerade auch vor den Folgen der Verletzung durch nicht angeschnallte andere Mitfahrer bewahrt werden sollten. Der BGH gehe von einem Mitverschulden des Geschädigten bei Verletzung der eigenen Gurtpflicht aus. Es gelte – so der Senat – aber auch für Verletzungen anderer Fahrzeuginsassen.
Die gesetzliche Begründung für die Einführung der Gurtpflicht auf den Vordersitzen aus dem Jahre 1975 stelle darauf ab, dass gerade auch aus Zusammenstößen von Fahrzeuginsassen erhebliche Gefahren herrührten. Die Gurtpflicht sei im darauffolgenden Jahrzehnt auf sämtliche Fahrzeuginsassen ausgedehnt und bußgeldbewehrt worden. Das vom Senat zugrunde gelegte, weite Verständnis des Schutzzwecks der Gurtpflicht diene der Verkehrssicherheit und dem Schutz der individuellen Rechte aller Verkehrsteilnehmer; es stehe im Einklang mit der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts sowie anderer Obergerichte zur Bußgeldbewehrung der Gurtpflicht. Ebenso füge es sich in das haftungsrechtliche Gesamtsystem ein.
Strafwürdiges Verhalten des betrunkenen Autofahrers überwiegt
Der Senat hat jedoch offengelassen, ob bei dem vorliegenden Unfall die Knie der Beklagten in die Rückenlehne des Beifahrersitzes eingedrungen waren und dies zu den Wirbelsäulenverletzungen der Geschädigten geführt hatte. Angesichts des strafwürdigen, grob verkehrswidrigen und rücksichtslosen Verhalten des Versicherungsnehmers der Klägerin trete eine mögliche Mithaftung der nicht angeschnallten Beklagten zurück. Hierzu hat der Senat auf die von der bisherigen Rechtsprechung entwickelten Maßstäbe zur Höhe der Mithaftung des Verletzten bei Nichteinhaltung der Gurtpflicht im Falle eigener Verletzungen zurückgegriffen und ist von einem vergleichbaren Ausnahmefall ausgegangen. Das Urteil ist nicht rechtskräftig. Der Senat hat die Revision nicht zugelassen.
Oberlandesgericht Köln, ra-online (pm/ab)
Staatsrecht / Verfassungsrecht / Infektionsschutzrecht [09.09.2024]
BVerfG muss unter Berücksichtigung der veröffentlichten RKI-Protokolle zu COVID-19 die Verfassungsmäßigkeit der einrichtungsbezogenen Impfpflicht neu entscheiden
Verletzte die einrichtungsbezogene Impfpflicht Grundrechte?
Das Verwaltungsgericht Osnabrück hat das Klageverfahren einer Pflegehelferin gegen ein vom Landkreis Osnabrück 2022 mangels Vorlage eines Impf- oder Genesenennachweises ausgesprochenes Betretungs- und Tätigkeitsverbot ausgesetzt. Die Kammer wird das Verfahren nunmehr dem Bundesverfassungsgericht vorlegen und ihm die Frage stellen, ob § 20a Infektionsschutzgesetz (IfSG, in der Fassung vom 18. März 2022) mit Art. 2 Abs. 2 S. 1 und Art. 12 Abs. 1 GG vereinbar gewesen ist.
Die Pflegehelferin hatte 2022 in einem Krankenhaus gearbeitet. Der Landkreis hatte sie aufgefordert, einen Immunitätsnachweis vorzulegen, also entweder einen Impfnachweis, einen Genesenennachweis oder ein ärztliches Zeugnis darüber, dass sie nicht gegen das Coronavirus geimpft werden könne. Als die Pflegehelferin nicht reagierte, hatte der Landkreis es ihr Anfang November 2022 untersagt, weiter als Pflegehilfe tätig zu sein (befristet bis Ende Dezember 2022).
Neubewertung anhand von Erkenntnissen aus den RKI-Protokollen?
Die Kammer geht davon aus, dass eine verfassungskonforme Auslegung der Norm nicht möglich sei. So verletze die Norm das Grundrecht auf körperliche Unversehrtheit sowie die Berufsfreiheit. Zwar habe das BVerfG bereits mit Beschluss vom 27. April 2022 (1 BvR 2649/21) die Verfassungsmäßigkeit der streitgegenständlichen Norm festgestellt. Aufgrund der nunmehr vorliegenden Protokolle des COVID-19-Krisenstabs des Robert-Koch-Instituts (RKI) sowie der in diesem Zusammenhang durchgeführten Zeugenvernehmung von Prof. Dr. Schaade, Präsident des RKI, sei die Unabhängigkeit der behördlichen Entscheidungsfindung in Frage zu stellen.
Das RKI habe das Bundesministerium für Gesundheit auch von sich aus über neue Erkenntnisse aus Wissenschaft und Forschung informieren müssen. Nach der Gesetzesbegründung sei der Schutz vulnerabler Personen vor einer Ansteckung durch ungeimpftes Personal ein tragendes Motiv für die Einführung der einrichtungs- und unternehmensbezogenen Impfpflicht gewesen. Diese auf den Empfehlungen des Robert-Koch-Instituts beruhende Einschätzung werde durch die nun veröffentlichten Protokolle des Instituts erschüttert. Der Gesetzgeber sei seiner Normbeobachtungspflicht nicht gerecht geworden. Da § 20a IfSG im Laufe des Jahres 2022 in die Verfassungswidrigkeit hineingewachsen sei, sei eine - erneute - Vorlage an das Bundesverfassungsgericht erforderlich. Dem VG komme selbst keine Normverwerfungskompetenz zu. Der Beschluss ist unanfechtbar.
Eine weitere Entscheidung zu diesem Thema: Einrichtungs- und unternehmensbezogene Nachweispflicht einer Impfung gegen COVID-19 ist verfassungsgemäß (Bundesverfassungsgericht, Beschluss - 1 BvR 2649/21 -)
Verwaltungsgericht Osnabrück, ra-online (pm/ab)
Schadensersatzrecht / Nachbarrecht [09.09.2024]
Hobby-Imker haften für Schaden am Nachbarhaus durch verspritztes Bienenwachs
Anspruch auf Schadensersatz der aufgrund der Verbreitung von Bienenwachs auf das Nachbargrundstück entstandene Schäden
Zwei Hobby-Imker müssen den Schaden an einem Nachbarhaus durch verspritztes Bienenwachs – in Höhe von immerhin rund 95.000 Euro – ersetzen. Dies hat das Landgericht Lübeck entschieden.
Ein junges Paar wohnt auf einem Grundstück im Lübecker Umland und betreibt dort eine Hobby-Imkerei. An einem Frühjahrstag im Garten erhitzen sie Bienenwachs in einem Druckbehälter. Beim Öffnen des Deckels spritzt eine meterhohe Fontäne in die Luft – auf das Grundstück der Nachbarn und dort auf den im Vorjahr fertiggestellten Neubau. Vor dem Landgericht Lübeck fordern die Nachbarn von dem Paar Schadensersatz. Das junge Paar aber verweigert die Zahlung. Sie hätten nicht vorsätzlich gehandelt und auch nichts falsch gemacht. Für Zufall und höhere Gewalt seien sie nicht verantwortlich.
Druckbehälter wohl unsachgemäß geöffnet - keine anderen Ursachen ersichtlich
Das Paar muss für den Schaden aufkommen. Für eine Haftung für Schäden reiche wohl schon, dass sie in einem Wohngebiet überhaupt mit heißem Bienenwachs im Garten hantiert hätten. Auch sei bei lebensnaher Betrachtung davon auszugehen, dass der Druckbehälter nicht sachgemäß geöffnet wurde. Andere Ursachen seien nicht ersichtlich. Den erheblichen Schaden in Höhe von rund 95.000 € muss das Paar nun ersetzen. Das Urteil ist rechtskräftig.
Landgericht Lübeck, ra-online (pm/ab)
Dieser Service wird unterstützt von ra-newsflash.
|